Klausur- und Lerntips
Vorwort
Ein Ingenieur ist jemand, der Zahlenwerte ausrechnet. Die Formeln dazu entnimmt er meist einer Formelsammlung.
Im Gegensatz dazu ist ein Physiker jemand, der neue Formeln herleitet oder "erfindet".
Der Physiker kann ein für einen bestimmten Zweck geeignetes mathematisches Modell eines realen
Vorgangs entwickeln. Deswegen landet so mancher promovierte Physiker bei einer Bank, denn diese Kenntnisse lassen sich nicht nur auf Atome,
sondern auch auf Aktienkurse anwenden. Mit einer Formelsammlung kann er nichts anfangen, denn wenn es für das Problem schon eine Formel gäbe,
hätte man einen Ingenieur darangesetzt. Er weiß recht wenige Formeln auswendig, denn bei Bedarf kann er sie sich herleiten.
Ein Physiker ist nur durch Androhung von Prügel dazu zu bringen, eine Formel zu benutzen, die er nicht versteht.
Und der Physikingenieur?
Wenn Sie später über Technikerniveau arbeiten möchten, müssen Sie
in der Lage sein, selbständig Lösungswege für die Probleme zu finden, die sich Ihnen in den Weg stellen. Im Gegensatz
zu Schulaufgaben läuft das praktische Problem aber nicht mit einem Schild herum, auf dem steht "Wählen Sie unter den angegeben
3 Formeln die richtige und setzen Sie Zahlen ein!". Der Physikingenieur ist von allen Ingenieuren der wenigst spezialisierte. Er
arbeitet auf Gebieten, wo es noch nicht für jedes Problemchen eine Formel gibt, sondern wo man immer wieder in der Lage sein muss,
sich selbst zu helfen. Damit Sie das können
und nicht wie ein Laborant einen "richtigen" Physiker neben sich stehen haben müssen, sollen Sie Zusammenhänge begreifen und
nicht unverstandene Formeln auswendig lernen!
Andere Lernstrategie als in der Schule erforderlich!
Auf der Schule werden Sie leider oft nur auf das Bestehen von Prüfungen trainiert, indem Sie zu jedem Aufgabentyp den passenden Lösungsweg lernen.
Diese Strategie vergessen Sie an der Hochschule bitte ganz schnell!
Wir verlangen Verständnis. Dass macht sich wesentlich daran fest, dass Sie die Fachbegriffe kennen und von ihrer Alltagsbedeutung unterscheiden können,
dass die Begriffe Bilder vor Ihrem geistigen Auge erzeugen und Übergänge zu anderen Bildern, dass Sie eine Fragestellung in eine die physikalischen Größen enthaltende Skizze übersetzen können,
dass Sie Zusammenhänge und wiederkehrende Prinzipien kennen und auf neu auftauchende Fragestellungen anwenden können.
Vieles in der höheren Mathematik wurde nicht aus Spieltrieb erfunden, sondern zur Beschreibung und Vorhersage von Vorgängen in der realen Welt.
Ein Physiker beherrscht diese Methoden nicht nur, er hat auch den Zusammenhang zwischen realer Welt und Mathematik so weit verinnerlicht, dass er "sieht",
dass diese Größe das Integral von jener sein muss oder dass ein bestimmter Prozess durch eine Differentialgleichung mit der und der Struktur zu beschreiben ist.
So wie andere Leute Pokémons in der realen Welt sehen, sieht der Physiker dort z.B. Vektorpfeile.
Probleme:
- Verständnis kann man sich nicht reinziehen wie Vokabeln.
- Der Stoff baut aufeinander auf, und wenn Sie einmal abgehängt sind, ist der Rest des Semesters (zumindest in diesem Fach) ziemlich verloren.
Dagegen hilft nur: Ständig am Ball bleiben und nicht erst zwei Tage vor der Klausur mit Lernen beginnen. Gehen Sie nach jeder Vorlesungsstunde den Stoff zu Hause noch einmal durch! Bearbeiten Sie zeitnah die Übungen!
Ihr Klausurerfolg hängt wesentlich von Ihrer Disziplin und Arbeitsorganisation während des Semesters ab!
Wenn Sie etwas nicht verstanden haben, nicht einfach darüber hinweggehen - das rächt sich garantiert. Sondern:
Denken Sie erst einmal gründlich nach.
Wenn das in zumutbarer Zeit keine Resultate bringt, schauen Sie in ein Lehrbuch - auf meiner Startseite gibt es fächerspezifische kommentierte Lehrbuchlisten mit Links auf Online-Ausgaben und Bestandsabfrage unserer Bibliothek.
Und wenn das erste Buch keine vernünftige Erklärung enthält, konsultieren Sie andere Bücher, bis Sie eines finden, welches für Sie verständlich ist.
Gleiches gilt für Wikipedia: Wenn die deutsche Seite nicht vernünftig erklärt (besonders die Mathematikseiten sind oft sehr abgehoben), probieren Sie je nach Ihren Kenntnissen andere Sprachen und greifen erforderlichenfalls dann doch zum Buch.
Und wenn das alles nichts hilft:
- die Frage mit anderen Studenten diskutieren
- den Dozenten fragen (in der Übung, nach der Vorlesung oder per Mail)
Klausur
Die Klausur soll Ihr Verständnis testen und nicht Ihr Kurzzeitgedächtnis:
- Wer nur Formeln gelernt, ihre Bedeutung aber nicht verstanden hat und nicht damit umgehen kann, soll durchfallen.
- Wer den Stoff verstanden hat, soll ohne große Vorbereitung durchkommen.
Diese Art von Wissen erwirbt man nicht durch Lernen!
Man muss sich mit dem Stoff auseinandersetzen. Man wird ja auch kein Klavierspieler, indem man Partituren auswendig lernt, noch
hilft es, stundenlang irgendwelchen Konzerten zu lauschen. Auseinandersetzung heißt z.B.
- Rechnen von Aufgaben in immer wieder neuen Zusammenhängen (also nicht immer das gleiche Lösungsschema), bis das zugrundeliegende Prinzip klar wird.
- Bücherlesen: Fast jedes Buch stellt die Dinge aus einem etwas anderen Blickwinkel dar. Ziel ist das Erkennen der gemeinsamen Idee.
Warum ist in einigen Klausuren keine Formelsammlung erlaubt?
Weil eine Formelsammlung Ihnen erstens nichts nutzt und Sie zweitens in falsche Sicherheit wiegen würde. Sie nutzt Ihnen nichts, weil
Klausuraufgaben an der Hochschule über reine Einsetzaufgaben hinausgehen. Üblicherweise erfordert die Lösung der Aufgabe
die Kombination mehrerer Formeln.
Die richtige Kombination, d.h. den Lösungsweg, ohne Verständnis der Zusammenhänge finden
zu wollen gleicht dem Versuch, durch Schütteln einer Schachtel mit Zahnrädern, Zeigern, Feder und Unruh eine Uhr
zusammenzusetzen.
Man muss die einzelnen Teile kennen und wissen, wie sie zusammenwirken und an welche Stelle sie hingehören. Sie müssen ein
gewisses Repertoire an Formeln im Kopf haben, denn nur dann sehen Sie, welche wie zusammenpassen, um eine Verbindung von der Aufgabenstellung
bis zur Lösung herzustellen.
Die Formelsammlung wiegt Sie in falsche Sicherheit, weil Sie sich dann erfahrungsgemäß auf die Formelsammlung verlassen, statt sich
mit dem Stoff auseinanderzusetzen, und erst in der Klausur merken, dass Denkschritte erforderlich sind, die nicht in der Formelsammlung
stehen.
Beispiele: "Welcher zeitliche Spannungsverlauf entsteht an einer idealen Spule, wenn man einen Dreieckstrom hindurchschickt?"
beantwortet
Ihnen keine Formelsammlung, sondern Sie müssen das Wesen einer Induktivität verstanden haben. Und wenn nach der
Phasenverschiebung gefragt wird, die eine Zusammenschaltung von 2 Widerständen und 2 Kondensatoren bei einer bestimmten Frequenz
bewirkt, so finden Sie die Formel dafür ebenfalls nicht aufgelistet, sondern Sie müssen Sie in der Lage sein,
bestimmte Regeln und Rechentechniken anzuwenden.
So wie ein Gewichtheber nur Muskeln aufbaut, indem er immer wieder schwere Lasten stemmt, muss man physikalisches Denken trainieren, indem
man sich immer wieder mit geistigen Gewichten abmüht. Nur die regelmäßige eigene Anstrengung gibt Kondition - nicht das Herumsitzen
in der Vorlesung und auch nicht die Lernorgie zwei Tage vor der Klausur.
Welche Formeln soll man lernen?
Faustregel: Alle Definitionsgleichungen (also die Gleichungen, durch die eine neue physikalische Größe definiert wird) und alle Gleichungen mit Namen (z.B. Kirchhoffsche Regeln, Keplersche Gesetze). Dabei wird vorausgesetzt, dass Sie in der Lage sind, diese Gleichungen so umzuformen, wie es
für das gerade anliegende Problem erforderlich ist, oder gegebenenfalls auch einmal zwei Gleichungen zu kombinieren (beispielsweise sollten Sie in der Lage sein, aus den Grundgleichungen herzuleiten, dass bei der gleichmäßig beschleunigten Bewegung v = (2gs)1/2 gilt).
Die Werte physikalischer Konstanten werden, soweit erforderlich, auf dem Aufgabenblatt angegeben, desgleichen mathematische Formeln, die über das Standardwissen hinausgehen.
Gibt es eine Vorbereitung, die das Bestehen garantiert?
Eine Garantie lässt sich nicht geben, aber die folgende Vorgehensweise macht es sehr wahrscheinlich, dass Sie bestehen werden:
- Ich habe in den letzten Jahren sehr viele alte Klausuren herausgegeben, und die sind meines Wissens von der Fachschaft gesammelt worden. Besorgen Sie sich also von der Fachschaft meine alten Klausuren.
- Beginnen Sie spätestens 3 Wochen vor der Prüfung mit der Vorbereitung, indem Sie den Stoff des Semesters (Vorlesungen und Übungen/Praktika) noch einmal durchgehen und sich einprägen.
- Rechnen Sie dann eine der alten Klausuren unter Klausurbedingungen, ohne sich vorher die Lösungen angeschaut zu haben
(falls solche existieren, ich selbst habe keine Lösungen herausgegeben)..
- Bewerten Sie dann Ihre Klausur. Wenn Ihnen die richtigen Lösungen nicht vorliegen, setzen Sie sich mit ebenfalls prüfungsvorbereitenden Kommilitonen zusammen und erarbeiten Sie die Lösung gemeinsam.
In der erforderlichen Diskussion lernt man sehr viel.
- Wenn Sie 70-80% der Aufgaben lösen konnten, sind Sie gut vorbereitet. Wenn nicht: Füllen Sie Ihre Wissenslücken.
Beachten Sie dabei, dass die Klausur Verständnis testet und nicht gelernte Lösungswege.
Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass dieselbe Aufgabe erneut in einer Klausur auftaucht. Die gleiche Physik wird in einen immer wieder anderen Kontext gestellt.
Fragen Sie sich also "Was habe ich von der Physik nicht verstanden, dass ich diese Aufgabe nicht lösen konnte?", und helfen Sie dem ab.
- Wiederholen Sie das Ganze mit der nächsten alten Klausur und iterieren Sie so lange, bis Sie ausreichende Vorbereitung erreicht haben.
Sollten Ihnen vorher die alten Klausuren ausgehen (in Physik müssten 10-20 zusammengekommen sein), sprechen Sie mit mir oder der Studienberatung.