Schwingungen und Wellen


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SW 1.6a Das Tripelpendel / chaotisches Pendel

(Beschreibung von Hans-Peter Dürr)

1. Natur und Technik

Die Wissenschaft lehrt, dass der Natur eingeprägte Bewegungsgesetze bei Kenntnis der Ausgangssituation eines Systems uns erlauben, seine zukünftige zeitliche Entwicklung vorherzusagen. Die Himmelsmechanik gibt uns davon eindrucksvolle Beispiele: So führen die Newtonschen Bewegungsgesetze materieller Körper aufgrund des Gravitationsgesetzes, das die anziehende Kraftwirkung zweier Massen aufeinander beschreibt, zu einer eindeutigen Bestimmung der Bahn der Erde um die Sonne, nämlich einer Keplerschen Ellipsenbahn, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. Die spezielle Form der Ellipse, ihre Achsenlage und Exzentrizität, wird hierbei durch die Vorgabe von Ort und Geschwindigkeit der Erde zu einem bestimmten Zeitpunkt, etwa den gegenwärtigen, eindeutig festgelegt. Die sprichwörtliche Gewissheit, mit der wir jeden Morgen präzise mit dem Aufgang der Sonne glauben rechnen zu können, ist für uns paradigmatisch für die zwingende Notwendigkeit naturgesetzlicher Bewegungsabläufe.

Sie haben unser abendländisches Denken tiefgreifend beeinflusst und unsere westliche Zivilisation entscheidend geprägt. Bot doch die prinzipielle Möglichkeit einer Vorhersage zukünftigen Geschehens auf der Basis einer vorgegebenen Ausgangssituation nun auch umgekehrt die Chance durch ein geeignetes Arrangement von Teilen eines Systems und ihren kräftemäßigen Verknüpfungen hier und jetzt, dem System einen ganz bestimmten, von uns erwünschten Bewegungsablauf in Raum und Zeit aufzuzwingen. Dies schien dem Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, sich von den Zwängen der Natur weitgehend zu befreien und letztlich durch Technik in den Griff bekommen zu können.

Dies nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu erreichen, verlangte eine ausreichend exakte Kenntnis der allgemeinen Naturgesetze und die genaue Einstellung ganz spezieller Ausgangs-konfigu-rationen eines Systems.

2. Hintergrund

Durch detaillierte wissenschaftliche Untersuchungen der allgemeinen Zusammenhänge und durch sorgfältige technische Konstruktionen sollten diese Bedingungen, so vermutete man, in der erforderlichen Genauigkeit realisierbar sein, was sich tatsächlich auch in einer unübersehbaren Vielzahl von Fällen erfüllt hat. Dies hat zu den eindrucksvollen Erfolgen unserer Technik geführt und bildet heute die Grundlage für unsere ungebrochene Überzeugung, dass aufgrund menschlicher Phantasie letztlich alles machbar sei.

Die scheinbar so harmlose Forderung einer exakten Kenntnis der Naturgesetze und einer exakten Festlegung und Beschreibung eines Systems, erwies sich jedoch in der Folge zur großen Überraschung der Naturwissenschaftler als prinzipiell unerfüllbar. Dies war zunächst ein Ergebnis der mikrophyskalischen Forschung, die bei der Enträtselung der Eigenschaften der Atome die sogenannte Quantenphysik entdeckte.

Für die von uns direkt wahrgenommene Welt ergab sich jedoch eine ähnliche Konsequenz viel unmittelbarer durch die Entdeckung des "chaotischen" Verhaltens von nicht einfachen und stark nichtlinear wechselwirkenden Systemen. Bei diesen lässt sich die Eigentümlichkeit beobachten, dass kleine Änderungen in der Ausgangssituation dieser Systeme im allgemeinen nicht zu entsprechend kleinen Abweichungen in der vorhergesagten Endkonfiguration führen, sondern dass radikal andere Endzustände auftreten, dass dieses unerwartete Verhalten eigentlich mehr die Regel als die Ausnahme darstellt. Dies führt z.B. dazu, dass wenn das uns wohlbekannte System Sonne-Erde durch einen dritten Körper, etwa den Mond, ergänzt wird, eine Situation auftritt, die streng genommen nicht mehr berechenbar ist.

Das klassische 3-Körpersystem (wie etwa das System Sonne-Erde Mond) ist nach den Untersuchungen von 1889 des berühmten französischen Physikers und Mathematiker Henri Poincaré - in Beantwortung einer Preisfrage der Schwedischen Akademie der Wissenschaften - nicht mehr mathematisch lösbar (nicht integrabel). Der Grund dafür ist, dass der Einfluss des dritten Körpers - in unserem Beispiel des Mondes - auf den zweiten - die Erde - so klein er auch sein mag, unter Umständen zu einer Destabilisierung der Erdbahn um die Sonne führt, wodurch sie aus ihrer gewohnten Bahn geworfen würde. Dies bedeutet nicht, dass dies unbedingt der Fall sein muss. Es gibt auch ganz bestimmte Konfigurationen des 3-Körpersystems, bei der dies nicht passiert. Die Hoffnung wäre also, dass solche günstigen speziellen Bedingungen gerade bei unserem System Sonne-Erde-Mond vorliegen, wofür sprechen könnte, dass dieses System offensichtlich in den letzten viereinhalb Milliarden Jahren stabil war und uns auf diese Weise die Möglichkeit gegeben hat, solche Fragen überhaupt zu stellen. Dies heißt andererseits nicht, dass diese Feststellung uns nun eine sichere Gewähr dafür bietet, diese Stabilität auch in Zukunft erwarten zu können.

3. Beschreibung / Aufbau

Mit dem Sonnensystem und seinen vielen weiteren Planeten können wir nicht herumspielen, um die eingeprägte Unberechenbarkeit uns anschaulich auch vor Augen zu führen. Um dies besser zu überblicken, gibt es jedoch ein viel einfacheres mechanisches System, das wir uns auf den Tisch stellen können: Das physikalische Doppelpendel.


Tripelpendel     Ein Doppelpendel ist ein Pendel an einem Pendel, das durch seine Aufhängung und das Schwerefeld mit der Erde kräftemäßig verbunden ist. Die beiden verkoppelten Pendel entsprechen deshalb gewissermaßen der Bewegung von Erde und Mond um ihr gemeinsames Schwerkraftzentrum Sonne. Im Gegensatz zum Sonne-Erde-Mond-3-Körpersystem läuft allerdings unser Doppelpendel nicht reibungslos, weshalb es nach einiger Zeit von alleine zum Stillstand kommt. Wir können diesem Mangel etwas abhelfen, wenn wir das Doppelpendel nochmals an einem größeren dritten Pendel aufhängen, wodurch dem Doppelpendel eine zeitlang noch zusätzlich Energie zugefüttert wird und damit seine Reibungsverluste etwas kompensiert werden können. Wir können das so entstandene Tripelpendel jedoch auch gleich als ein Analogon für das klassische 4-Körperproblem (etwa entsprechend Sonne-Erde-Mond-Venus) ansehen.

Das genügend stark angeworfene Tripelpendel ist ein eindrucksvolles Beispiel für einen unberechenbaren "chaotischen" Bewegungsablauf. Beim schwachen Anstoßen des Tripelpendels ergeben sich nur Bewegungsabläufe, die verschiedenen Schwebungen zwischen den Pendeln (Hin- und Herschwingen der Energie) entsprechen, und die sich mit den uns geläufigen mathematischen Methoden gut beschreiben und berechnen lassen. Da auch bei sehr starken Ausschlägen des Tripelpendels wegen der Reibung in den Drehlagern und der Pendelarme mit der Luft, die Bewegung letztlich in eine solche kleinerer Energie mit entsprechend kleinen Ausschlägen übergeht, zeigt das Tripelpendel, streng genommen, nie das langfristig unberechenbare, chaotische Verhalten. Im Gegenteil, es wird letztlich immer in der unteren, einzig stabilen Lage zur Ruhe kommen. Die Unberechenbarkeit zeigt sich hierbei also auch bei starkem Anstoß eigentlich nur in Zwischenzeiten.

4. Erklärung

Im Gegensatz zur Himmelsmechanik ist uns das chaotische Bewegungsverbalten des Tripelpendels eher einsichtig. Es bat mit der "Nichtlinearität" der Kräfte beim "Physikalischen" Pendel zu tun. Anders als bei der sogenannten streng harmonischen Schwingung, wie wir sie etwa bei der Schwingung einer Masse an einer Feder beobachten können, bei der die rücktreibenden Kräfte bei einer Auslenkung aus der Ruhelage proportional zur Auslenkung der Masse zunehmen, gilt dies nicht für das physikalische Pendel. Hier wächst die rücktreibende Kraft proportional zum Sinus des Auslenkungswinkel w, was nur bei kleineren Winkeln proportional w ist. Bei großen Winkeln ist dies nicht mehr der Fall. Insbesondere gilt für einen maximalen Ausschlag w = &plusnm; 180°(Kopfstand des Pendels), das dort die rücktreibenden Kräfte verschwinden. Das physikalische Pendel hat also neben seiner stabilen Gleichgewichtslage bei w = 0 (untere Ruhestellung) noch eine zweite Gleichgewichtslage, die bei w = ± 180° in der es allerdings instabil ist.

Es sind solche Instabilitätspunkte, welche zu einem chaotischen Bewegungsverhalten führen. Auch das einfache das einfache physikalische Pendel hat schon eine solche instabile Lage, nämlich gerade am obersten Punkt, in dem eine Prognose für sein zukünftiges zeitliches Verhalten unmöglich ist. Eine beliebig kleine Änderung der Anfangslage- nämlich winzig wenig rechts oder links von der Vertikalen- führt zu einem total andersartigen Bewegungsablauf, nämlich einer links- oder rechtsdrehenden Anfangsschwingung. Während des Bewegungsablaufes wird das Pendelsystem immer wieder in die Lage kommen, seine verschiedenen Instabilitätspunkt zu durchlaufen und einer Bifurkation ausgesetzt zu sein (beim reibungslosen Tripelpendel unendlich oft, im wegen der Reibung, gedämpften Fall nur endlich viele Male), was die Unberechenbarkeit seines Bewegungsablaufes bewirkt.

Das chaotische Verhalten bedeutet nicht eine Aufkündigung des klassischen Determinismus, der besagt, dass eine genau fixierte Ausgangssituation zu einer bestimmen exakten Endkonfiguration führt (schwacher Determinismus), sondern nur, dass eine solche Endkonfiguration nicht mehr berechenbar wird, da sie bei beliebig kleinen Änderungen der Anfangskonfiguration extrem andersartige Endkonfigurationen annimmt. Prognosen in einem praktischen Sinne (starker Determinismus) sind nur bei robuster, insensibler Abhängigkeit von der Anfangsbedingung möglich. Diese Robustheitsbedingung mag als eine mehr messtechnische relevante Bedingung erscheinen, die durch raffinierte Methoden und Justierungen prinzipiell behebbar sein sollte. Dies ist aber nicht er Fall. Denn in einer singulären Lage, wie beim kopfstehenden Pendel, hängt die Entscheidung, welcher Pfad bei der Weggabelung gewählt wird, nicht nur von einer exakten Justierung ab, sondern in dieser Lage wird das Pendel empfindlich abhängig von Äußeren Störungen. Das bedeutet: In einer instabilen Situation wird auf einmal wichtig, dass sich kein System streng vom Rest der Welt und seine verschiedenen Einflüssen isolieren lässt. Hier wird der ganzheitliche Charakter unserer Welt, also dass "alles mit allem zusammenhängt", wesentlich und damit auch die letztlich allem zu Grunde liegende holistische Struktur, wie sie durch die Quantenphysik ausgewiesen wird.

4. Physik

In der Nähe von Instabilitätspunkten setzt die Quantenphysik in doppelter Weise deutliche Schranken. Zunächst ist es im Rahmen der Quantenmechanik prinzipiell unmöglich, Ort und Geschwindigkeit eines Körpers- also gerade die notwendigen Bestimmungsstücke zur Festlegung seiner Ausgangslage- gleichzeitig genau zu definieren (Heisenbergsche Unschärferelationen). Dann stellt sich auch heraus, dass die Naturgesetze gar nicht von der streng deterministischen Art der klassischen Newtonschen Mechanik sind, sondern zukünftiges Geschehen nur noch im Mittel statistische und nicht mehr in jedem Einzelfall festlegen. Dieser Umstand erlaubt deshalb die Interpretation, dass chaotische Systeme, wie schon das Tripelpendel, durch ihren Bewegungsablauf uns in gewisser Weise die im Grunde offene- aber in der Regel makroskopisch verborgene- Naturgesetzlichkeit sichtbar machen. Das Tripelpendel verschafft uns deshalb besser als jedes technische Gerät unseres Alltags einen Einblich in das tiefere Gefüge unserer Welt. Wegen der unvermeidlichen Reibungsverluste- oder allgemeiner: dem stetigen Anwachsen der Entropie- kann das Tripelpendel nur vorübergehend in der chaotischen Bewegungsphase gehalten werden. Wollen wir die Offenheit der Bewegung über längere Zeiten aufrechterhalten, so müssen wir dem System dauernd Energie- oder Syntropie= negative Entropie- zuführen, wodurch es am Rückfall in den stabilen Gleichgewichtszustand gehindert wird. Solche syntropie- gefütterten offenen Systemen spielen in der Natur eine wichtige Rolle und bilden die Grundlage des Phänomens des Lebendigen.

5. Ergebnis

Das Tripelpendel kann deshalb das umfassende Wesen der Natur besser charakterisieren als ein mechanisches Uhrwerk, das mehr dem einfachen Pendel entspricht. Das Tripelpendel demonstriert für uns, dass das zukünftige Geschehen im wesentlichen offen ist, ähnlich wie wir dies bei der lebendigen Materie, bei Pflanzen, Tieren und uns selbst, dem Menschen erfahren. Diese Lebendigkeit ist nicht einfach Ausdruck einer hochkomplizierten Struktur, deren prinzipielle Einfachheit für uns nur noch nicht durchschaubar und deshalb unverständlich ist. Die Lebendigkeit spiegelt eine prinzipielle Unberechenbarkeit wider, was nicht gleichbedeutend mit Willkürlichkeit ist, wie dies durch das Auftreten bestimmter Muster in verkoppelten chaotischen Systemen zum Ausdruck kommt.

Das Tripelpendel kann aber in seinem Bewegungsverhalten völlig berechenbar und deshalb auch prognostizierbar werden, wenn wir ihm seine Bewegungsfreiheitsgrade- z. B. durch Arretierung der zwei Unterpendel mit dem Hauptpendel rauben. Oder- was viel einfacher ist und ohne unser Zutun geschieht- ihm nicht die nötige Mindestenergie zukommen lassen oder diese ihm nicht durch Zuatzstöße garantieren, weil ihm ohne dies Mindestenergie seine "lebendige Entfaltung "- Durchlaufen der instabilen Bifurkationspunkte- unmöglich wird. Alles Lebendige, die Menschen und die menschliche Gesellschaft eingeschlossen, sind Systeme, die weit weg vom stabilen (thermodynamischen ) Gleichgewichtzustand sind. Für diese ist deshalb, was ihre Offenheit und Gestaltungsfähigkeit anbelangt, das stark ausgelenkte Tripelpendel ein besseres Gleichnis als das einfache Pendel oder jede komplizierte Maschine unserer hochentwickelten technischen Welt, bei der durch spezielle Konstruktion- welch nach Möglichkeit alle ihre Instabilitätspunkte auszuschalten versucht- ein unserer Intention gemäßer, absolut zuverlässiger, eindeutiger Bewegungsablauf gewährleistet ist.